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]]>Das muss im Juni 2013 gewesen sein, auf dem H?hepunkt der Gezi-Proteste in Istanbul – den ersten und zugleich letzten ernstzunehmenden Protesten gegen die Regierung Erdo?ans. Zwei Monate sp?ter verlie? ich die Türkei, um für VICE in Berlin zu arbeiten. Wegen meiner Artikel über den Aufstand hatte man mir dort einen Job angeboten. Ich blieb für etwas mehr als zehn Jahre, bis der Laden dieses Jahr unrühmlich in sich zusammenfiel. Man kann also durchaus behaupten, dass Gezi mein Leben ver?ndert hat. Aber trotzdem war dieser Aufstand nur eins der Ph?nomene, die meine Zeit in Istanbul gepr?gt haben. Das andere war Mali.
Mali war mein Mitbewohner in der Wohnung, in der ich acht meiner zw?lf Monate in Istanbul verbrachte. Oder genauer: Er war der Hauptmieter und Hauptbewohner, und ich war einer der vielen Ausl?nder, die in schneller Abfolge durch die anderen beiden Zimmer rotierten, um mit der Miete ihren eigentlichen Zweck zu finanzieren. Denn unsere Wohnung bildete den Mittelpunkt – und inoffiziellen Club – der Szene, deren unumstrittener K?nig Mali war: der Untergrund, die schwulen Punks von Beyo?lu, die auf bizarre Kostüme standen und auf Unmengen in der Nachbarschaft zusammengepanschtes Ecstasy, auf dreckige Musik und Partys, auf denen man n?chtelang kreischend herumspringt. Das fand ich allerdings erst heraus, nachdem ich eingezogen war.
Ich kam im Sommer 2012 nach Istanbul mit einem abgeschlossenen Master in Byzantinistik und der vagen Idee, einen Job bei irgendeinem Start-up zu finden. Zuerst kam ich über Kontakte bei einem netten Uni-Dozenten in Ortak?y unter, aber das liegt recht weit au?erhalb des Zentrums und ich wollte dringend rein in die Stadt. Eines Tages sah ich auf Craigslist die Annonce. Ich erinnere mich noch an sie, weil der Text so wahnsinnig fr?hlich war. “Experience the amazing ?ukurcuma spirit!” oder so ?hnlich lautete die überschrift, und in diesem Stil ging es flüssig und blumig weiter. Ich wusste nicht viel über ?ukurcuma, aber das Viertel lag direkt neben Cihangir, dem Hipster-Herz von Istanbul. Deshalb bewarb ich mich. Recht bald antwortete mir jemand in auffallend weniger flockigem, eher gebrochenem Englisch. Ich k?nne am Samstag vorbeikommen, müsse mich dann aber schnell entscheiden. Das war mein erster Kontakt mit Mali. Sp?ter erfuhr ich, dass eine Freundin die Annonce für ihn geschrieben und sich einen Spa? daraus gemacht hatte, die Wohnung besonders blumig und hippiem??ig zu beschreiben.
Der Typ, der mir die Tür aufmachte, hatte nichts von einem Hippie. Vor mir stand eine Art türkischer David Bowie in einem alten Morgenmantel, komplett mit lackierten Fingern?geln und Eyeliner, der mich durch seine goldene Oversize-Brille alles andere als beeindruckt musterte. “Oh, another German”, sind die ersten Worte, an die ich mich aus Malis Mund erinnere. Davon abgesehen redete er nicht mehr viel mit mir an diesem ersten Tag.
Als ich die Wohnung sah, entschied ich trotzdem sofort, dort einzuziehen. Erstens gefiel mir die Einrichtung: Mali hatte die Altbauwohnung ausschlie?lich mit M?beln von der Stra?e ausgestattet und die W?nde mit allen m?glichen Bildern vollgeh?ngt. Dazwischen hatte jemand umgedrehte schwarze Kreuze direkt auf die Wand gepinselt. Vor allem mein Zimmer war perfekt. Es war schmal und enthielt nicht viel mehr als ein durchgelegenes, nicht sehr sauber wirkendes Bett, aber es hatte am Ende eine Tür zum Balkon. Von dort aus konnte ich über das Goldene Horn bis auf die Hagia Sophia blicken. Was kümmerte mich da der schlecht gelaunte Typ? Ich zog ein.
Es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass ich in eine etwas andere Wohnung gestolpert war. Wenn ich jemandem erkl?ren will, wie es war, dort mit Mali zu leben, dann erz?hle ich meistens folgende Geschichten:
Nach ?ukurcuma zog ich nach Tarlaba??, eigentlich das viel wildere Viertel, in dem Roma, Kurden, afrikanische Migranten, Drogendealer und transsexuelle Prostituierte sich die Stra?en teilten. Dort lebte ich, als ein paar Wochen sp?ter die Gezi-Proteste losbrachen.
Auch wenn Gezi offiziell wichtiger war: Die Geschichten, die ich in ?ukurcuma erlebt habe, erz?hle ich seit über elf Jahren immer noch gerne. Oft gruseln sich die Zuh?rer dann (gut), bewundern meine Coolness, dass ich so was ausgehalten habe (gut), und sagen dann, dass dieser Mali ja wirklich ein totaler Kotzbrocken gewesen sein muss (nicht gut). Dann merke ich immer, dass ich die Geschichte vielleicht nicht ganz richtig erz?hle.
Ich habe diese Geschichten so oft erz?hlt, dass sie mir schon selbst fantastisch erschienen.
Denn eigentlich bin ich Mali vor allem dankbar. Erstens natürlich, weil ich diese ganzen irren Storys ohne ihn nicht h?tte. Aber auch, weil ich ihn trotz allem bewundert habe. Ich hatte etwas Schiss vor ihm, aber ich konnte auch nicht leugnen, dass er mich faszinierte. Er war ein echter Punk und hatte sein ganz eigenes, in seiner ganzen Verschlissenheit sehr stringentes ?sthetisches System. Er arbeitete nicht, und in meiner Erinnerung verlie? er fast nie bei Tageslicht die Wohnung. Aber wenn der Zirkus losging, lieferte er immer eine tadellose Show. Die Kostümierung, die Perücken und das Make-up zeugten immer von einer morbiden Eleganz, die sich sogar mir, dem biederen Hetero-Deutschen, mühelos erschloss. Au?erdem hatte er einen sehr guten und sehr eklektischen Musikgeschmack – mehrmals spielte er mir deutsche Lieder vor, die ich selbst noch nie geh?rt hatte. Und: Obwohl mein Türkisch nie ausreichte, um das Gepl?nkel zu verstehen, begriff ich schnell, dass Mali immer der Witzigste im Raum war. Kein Zweifel, Mali konnte fies sein – aber er war dabei immer auch komisch.
Ein weiteres Problem ist, dass ich diese Geschichten so oft erz?hlt habe, dass sie mir oft selbst fantastisch erscheinen. Dazu kommt, dass ich nicht alles selbst erlebt habe. Die Geschichten eins, zwei und vier hatte ich zum Beispiel nur von Julian geh?rt, der besser Türkisch sprach als ich. Und vieles von dem, was Mali damals tat, verstehe ich bis heute nicht.
Ich erinnere mich zum Beispiel sehr gut an den Moment, als Mali mich anschaute und sagte: “You’re so weird, you know. I don’t really understand what you do here. You don’t work, you just make little drawings, what do you do?” Ich konnte es kaum glauben. Mali fand mich seltsam? Mali verstand nicht, wovon ich lebte? Der Grand Wizard of Weirdness, der Thin White Duke of Debauchery hielt mich für einen Tagedieb? Ich war so überrascht, dass ich nicht wusste, was ich ihm antworten sollte. Was dachte er denn, wie er nach au?en wirkte?
Ich bin in den letzten elf Jahren nie auf die Idee gekommen, Mali noch einmal zu kontaktieren. Aber als ich im Februar überlegte, was ich zu unserem letzten Magazin beitragen kann, kam mir die Idee: Ich reise zurück nach Istanbul, um Mali zu finden. Zum Ende unseres kleinen Punk-Magazins wollte ich herausfinden, was aus dem h?rtesten Punk, den ich je kannte, geworden ist – und aus dieser Stadt und ihrem Aufstand, der mir damals so viel bedeutet hat.
Vor meiner Abreise schreibe ich den gemeinsamen Bekannten, an die ich mich noch erinnern kann. Ob sie irgendeine Ahnung haben, was aus Mali geworden ist? Keiner antwortet. Als ich in das Flugzeug steige, wei? ich also nicht, wie ich Mali überhaupt finden soll. Bei der Ankunft verfliegen dann aber alle Zweifel: Es lohnt sich immer, nach Istanbul zu kommen.
Istanbul ist nicht einfach eine bedeutende Stadt, es ist die Stadt. Das sagt schon der Name, der sich aus der griechischen Floskel “eis t?n pólin” entwickelt hat, “in die Stadt”. Noch heute kommt keine andere an das Wunder heran, das sich um den Bosporus und das Goldene Horn herum auftürmt. Wer sich für Geschichte interessiert, kann sich gar nicht dagegen wehren, bei jedem Schritt auf Istanbuls Stra?en eine Art Elektrizit?t zu spüren. Genau wie Rom war Istanbul immer eine Stadt der gr??enwahnsinnigen Herrscher, der übergeschnappten Bauprojekte und der entfesselten Mobs. Aber anders als Rom ist sie das auch heute noch.
Allein die Bauten: In den elf Jahren, seit ich die Stadt verlie?, hat Erdo?ans Regierung Istanbul mit mehreren Megaprojekten beschenkt: einem gewaltigen neuen Flughafen, dem gr??ten Europas, für den 13 Millionen B?ume gerodet wurden und bei dessen Bau nach manchen Sch?tzungen mehr als 400 Arbeiter ihr Leben lie?en; dem Marmaray- und dem Eurasien-Tunnel, den tiefsten Unterseetunneln der Welt, die den Bosporus unterqueren und so den europ?ischen mit dem asiatischen Teil der Stadt per U-Bahn und Auto verbinden; einer imposanten dritten Brücke über den Bosporus oben im Norden; einer komplett neu aus dem Boden gestampften Riesenmoschee am Taksim-Platz; dem Fernsehturm Kü?ük ?aml?ca auf der asiatischen Seite, der mit seinen 369 Metern das h?chste Bauwerk in der Türkei ist und von seinem fernen Hügel aus auf die Stadt starrt wie Saurons Turm.
Auf dem Weg zu meinem alten Viertel f?llt mir aber auch auf, wie viel immer noch da ist: die verwinkelten Gassen und alten Palazzi von Pera, die Rufe der Stra?enverk?ufer, die Maronen, Maiskolben und Miesmuscheln anbieten, die Müllsammler mit ihren riesigen S?cken, das alte Portal des griechischen Zo?rafyon-Gymnasium. Dann erreiche ich Cihangir. Das Viertel bildete vor elf Jahren das Epizentrum der Istanbuler Intelligenzija: In den Teeh?usern, Hipster-Cafés und Kneipen tranken progressive Intellektuelle und kritische Journalisten zusammen mit berühmten Schauspielern und Filmemachern. Und heute? Mein Lieblingsplatz um die grüne Firuz-A?a-Moschee hat sich auf den ersten Blick kaum ver?ndert, ich erkenne viele der Cafés wieder, es liegt immer noch derselbe Duft von Kaffee, Zigarettenrauch und Blumen in der Luft.
Was allerdings verschwunden ist, sind viele der Leute, die ich damals kannte. Cengiz zum Beispiel, ein Filmemacher, der mir auf meine E-Mail antwortet, dass er schon seit acht Jahren in Toronto lebt. “Wie die meisten meiner Freunde bin ich abgehauen, ich komme nur noch im Sommer zurück”, schreibt er. “Es ist immer noch super, aber über die Regierung muss man die Klappe halten.”
Was ich lange nur nebenbei verfolgt habe, wird mir hier sehr pr?sent: Die vergangenen elf Jahre in der Türkei waren hart. Nachdem die Polizei die Gezi-Aufst?nde in Grund und Boden geknüppelt hatte, lie? Erdo?an seinen autokratischen Tendenzen immer freieren Lauf. Sobald er 2014 Pr?sident wurde, verbot er s?mtliche ?ffentliche LGBT-Aktivit?ten. Seitdem wird die j?hrliche Istanbul-Pride regelm??ig von der Polizei gesprengt. Der stümperhafte Coup-Versuch der Gülenisten im Juli 2016 kostete viele Menschen das Leben und stie? eine neue Welle von S?uberungen los. Im Jahr darauf gewann Erdo?an das Referendum, das die Türkei in ein Pr?sidialsystem umwandelte und ihm noch mehr Macht verlieh. Gleichzeitig wurde die Türkei in diesen Jahren von einer beispiellosen Terrorwelle erschüttert, in der Selbstmordattent?ter des Islamischen Staats, aber auch kurdische Extremisten scharenweise Zivilisten abschlachteten.
“Das waren die schlimmsten Jahre”, sagt der Journalist und Autor Kaya Gen? am Telefon. “Alle unsere Freunde wurden verhaftet, meine Herausgeber, meine Kollegen. Damit sendete die Regierung ein Signal.” Die Regierung habe damals genau recherchiert, wer im kritischen Kulturbetrieb in Cihangir die F?den zog, und die Produzenten, Kuratoren und Autoren dann sehr gezielt aus dem Verkehr gezogen. “Es war eine düstere Zeit für alle, die an das geglaubt hatten, was wir manchmal ‘Republik Cihangir’ nannten.”
Tats?chlich hat Erdo?an seinen Marsch zum Voll-Autokraten seither nur beschleunigt. Letztes Jahr, zum hundertsten Geburtstag der türkischen Republik und zehnten der Gezi-Aufst?nde, hatten sich noch einmal alle Gegner der AKP hinter dem Herausforderer Kemal K?l??daro?lu zusammengetan, um Erdo?an endlich vom Thron zu sto?en. Und genau wie beim Referendum 2017 sind sie gescheitert, Erdo?an ist heute m?chtiger denn je. Für Kaya Gen? bedeutet das aber auch eine perverse Erleichterung. “Wenigstens gibt es keinen Bullshit mehr. Erdo?an behauptet nicht mal, ein demokratischer Anführer zu sein. Ich glaube, das ist gesünder. Wir haben keine Illusionen mehr.”
Von Cihangir sind es nur ein paar Schritte zu dem Haus, in dem ich damals mit Mali gelebt habe. Es sieht heute noch genauso angeschlagen aus. Ganz unvermittelt kommt mir eine weniger abgeschliffene Erinnerung an Mali zurück: Wie er ganz aufgeregt war, als er von meinen Versuchen erfuhr, mir selbst das T?towieren beizubringen. Er wollte unbedingt ein umgedrehtes Kreuz von mir haben, obwohl ich damals noch nicht mal auf einer Schweinehaut geübt hatte. “I don’t care if it looks shit, I want it that way!”, sagte er mit leuchtenden Augen. Ich versprach, ihn zu t?towieren, sobald ich wei?, wie herum man die Maschine h?lt.
Heute hat das Haus immerhin eine moderne Klingelanlage. Im unserem Stock meldet sich niemand, aber aus dem dritten antwortet eine m?nnliche Stimme. Unwirsch sagt er, dass er mich nicht hereinlasse. Als ich frage, wer heute im vierten Stock wohnt, erfahre ich, dass es jetzt ein Airbnb ist. Ich versuche, die Wohnung auf Airbnb zu finden, ohne Erfolg. Ich kann nur zu unserem Stockwerk hochstarren und mich fragen, wie viel von der ursprünglichen Wohnung wohl übrig geblieben ist. Als ich das Stra?enschild “Alt?patlar Sokak” sehe, wundere ich mich, wie ich die Adresse derma?en vergessen konnte – und mir kommt die Idee, in meinen eigenen E-Mails danach zu suchen. Und da sind sie: unsere allerersten E-Mails, mit Malis Adresse von vor zw?lf Jahren. Ich schreibe ihm, gro?e Hoffnung habe ich allerdings nicht.
Danach gehe ich die S?raselviler Caddesi zum Taksim hoch. Diese beschauliche Stra?e, die aus dem Herzen Cihangirs direkt zum Platz führt, wurde im Juni 2013 pl?tzlich zu einer der Hauptfronten zwischen Demonstranten und Polizei. Anderthalb Tage lang wogte der Kampf hier zwischen Barrikaden aus brennendem Mülleimern und Beton-Blumenk?sten. Anderthalb Tage lang versuchte die Polizei, die immer wieder anbrandende Menge mit Tr?nengas zurückzudr?ngen, bis die Uniformierten sich abrupt zurückzogen und den Weg zum Taksim frei machten. Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Vor dem Krankenhaus, in das ich eine Freundin bringen musste, der eine Tr?nengaskartusche eine Platzwunde in die Stirn geschlagen hatte, stehen ein paar Krankenpflegerinnen mit Kopftuch und plaudern.
Der Taksim-Platz ist immer noch so wuselig und ungemütlich wie vorher, allerdings wird er jetzt von zwei sehr gro?en Neubauten eingerahmt. Beide wurden erst 2021 fertig: die riesige Moschee und das neue AKM, kurz für Atatürk Kültür Merkezi. Zu meiner Zeit war das AKM eine v?llig verfallene Ruine. Die Gezi-Protestanten hatten sie damals übernommen und mit Dutzenden Plakaten behangen. Jetzt steht dort ein an dem alten Entwurf orientierter, aber ultramoderner und eigentlich sehr gelungener Neubau. In seinem Inneren scheint eine gro?e rote Kugel zu schweben, die sich als Opernsaal herausstellt. Ich lese, dass hier am Abend die Rossini-Oper über Mehmet II. aufgeführt wird, kaufe mir ein Ticket und gehe dann weiter in Richtung Gezi-Park.
Der Park, dessen geplanter Abriss damals die Proteste ausl?ste, ist heute zwar noch da, vom Taksim aber kaum zu sehen. Blockiert wird er von einer Art Parkplatz, der mit einem Wasserwerfer, einem Schützenpanzer, Absperrgittern, Truppentransportern und zivilen Autos vollgestellt ist, bewacht von Polizisten mit Maschinenpistolen. Der Park dahinter ist allerdings auch nicht viel einladender. Zwar hat die Regierung – wohl als vers?hnliche Geste – die Anlagen kurz nach den Protesten runderneuert und frisch aufgeforstet. Allerdings ist der Park so angelegt, dass man sich überall vage beobachtet fühlt. Die H?lfte der M?nner auf den B?nken sieht aus wie Zivilpolizisten, ein richtiges Parkgefühl will nicht aufkommen.
Ich versuche mir in Erinnerung zu rufen, wie es hier auf dem H?hepunkt der Proteste aussah: Alles voller Zelte, in denen Demonstranten schliefen, dekoriert von unz?hligen selbstgemalten Bannern. Dazwischen Volksküchen und Erste-Hilfe-Stationen. Der Park war immer brechend voll, dauernd gab es spontane Ansprachen, Konzerte, Volkst?nze oder sogar Yogakurse. Die Menschen, die Erdo?an stets nur als “capul?ular”, also Plünderer, bezeichnete, entfalteten eine ungeheure Kreativit?t, Lebensfreude und trotzigen Mut – das, was Deniz Yücel mal “den Gezi-Geist” nannte. Vieles war naiv, aber für eine kurze Zeit wurde hier eine echte demokratische Utopie zelebriert. “Gegen den Faschismus, Schulter an Schulter” war mehr als eine Floskel: Vor allem junge Menschen, die bisher v?llig unpolitisch gewesen waren, lehnten sich im Schulterschluss mit Umweltschützern, Queeren, S?kularen, antikapitalistischen Muslimen, Aleviten, Sozialisten, Liberalen, Kurden und Armeniern gegen die autorit?re Regierung auf.
In den vierzehn Tagen, in denen die Demonstranten hier kampierten, schrieben sie türkische Geschichte: Sie erprobten einen Gegenentwurf zu Erdo?ans Türkei. “Die Leute hatten damals das Gefühl, dass sie es mit Gleichgesinnten zu tun haben”, sagt Kaya Gen?. “Sie wollten dasselbe und waren bereit, ihre Karriere, sogar ihr Leben dafür zu riskieren. Die Menschen wollten ein moralisches Leben leben.” Solidarische Schultern statt Ellbogen, Kooperation statt Kapitalismus, Redefreiheit statt Repression. Mit dem Ruf “Taksim ist überall, Widerstand ist überall” erfasste dieser Geist für eine kurze Zeit das ganze Land. Ich frage mich, was davon heute noch übrig ist.
Und dann, wenige Stunden nachdem ich ihm geschrieben hatte, antwortet Mali. Sehr ausführlich. Er bedankt sich für meine E-Mail und erkl?rt, dass er sich gerade in einer “komplexen, herausfordernden, komplizierten” Phase seines Lebens befindet. Er schreibt, dass er letztes Jahr “endlich herausgefunden hat, wo all die Weirdness, die mich umgab” herkam, und listet mir dann auf, was alles bei ihm diagnostiziert wurde: Autismus, Zwangsst?rungen, fünf bis sechs verschiedene Angstst?rungen, ADHS, Schlaf- und Essst?rungen, Restless-Legs-Syndrom und noch einige mehr. Und er schreibt, dass meine E-Mail ihn sehr bewegt habe. Es w?re für ihn sehr ?wertvoll“, sich mit mir zu treffen, da auch er viele Fragen zu dieser Zeit habe und sich viel davon verspreche, mit mir darüber zu reden. Er endet mit “in aller Aufrichtigkeit” und mehreren Herz-, Sonnen-, und Bet-Emojis, und ganz am Ende mit einem roten Ballon.
Auf einmal explodiert mein schlechtes Gewissen. War ich die ganze Zeit der Kotzbrocken?
Kurz: Es ist eine der liebevollsten Nachrichten, die ich seit Langem bekommen habe, und sie kommt von Mali.
Auf einmal explodiert mein schlechtes Gewissen. War ich die ganze Zeit der Kotzbrocken? Wie konnte ich so kalt sein? Dieser Mensch ist fast gestorben, weil ein Freund ihm den Hals aufgeschlitzt hat, und ich mache daraus eine Geschichte, um zu zeigen, wie wild meine Zeit in Istanbul war? Ich lese über Autismus-Spektrums-St?rung im Erwachsenenalter und erfahre, dass nichtdiagnostizierte Betroffene oft wahnsinnig hart arbeiten, um ihre zwischenmenschlichen Schwierigkeiten zu kompensieren und zu verbergen. Das wird manchmal als Camouflaging bezeichnet und ist so anstrengend, dass es laut mehreren Studien Depressionen, ?ngste und ein erh?htes Stressempfinden ausl?sen kann. Dazu kommen die sogenannten Komorbidit?ten, eben die von Mali erw?hnten Probleme wie ADHS, Angstst?rungen und sogar Magenbeschwerden. H?tte ich nicht merken müssen, dass Mali unter dem Panzer seiner Coolness an Problemen litt, die ich mir nicht einmal vorstellen kann? Für die er selbst nicht einmal die richtige Sprache hatte?
Und ja, es war nicht nur lustig, praktisch im beliebtesten Szeneclub der Stadt schlafen zu müssen – aber was wusste ich eigentlich davon, wie hart das Leben für Leute wie Mali in einer Stadt wie Istanbul war? Vielleicht war unsere Wohnung einer der wenigen Safe Spaces, in denen seine Freunde und er sich ausleben konnten, ohne angegriffen zu werden?
Ach ja: Er schreibt au?erdem, dass er seit mindestens fünf Jahren in Berlin lebt.
Aufgeregt antworte ich, bedanke mich sehr und sage, dass wir uns unbedingt treffen sollten, sobald ich aus Istanbul zurück bin. Ich frage ihn, ob er mir einen Kontakt zu Freunden von damals vermitteln k?nnte, die noch in Istanbul leben. Aber fürs Erste bekomme ich keine Antwort mehr. Also mache ich mich auf den Weg in die Oper.
In einem aufgedonnerten Geb?ude zu sitzen, das man nur als nackte Ruine kannte, ist ein komisches Gefühl. W?hrend sich auf der Bühne Erisso, Anna und Maometto durch das eher z?he Libretto von Rossini arbeiten, muss ich daran denken, wie wir hier w?hrend der vierzehn Tage Anarchie ein- und ausgegangen sind. Vorbei an den frei h?ngenden Kabeln und rostenden Stahltr?gern kletterten wir die alten Treppen hoch. Ganz oben wurden wir mit einem unglaublichen Blick belohnt: hinter uns der Bosporus, vor uns der mit Menschen vollgepackte Taksim. Hier oben hatten die Fu?ballfans von Be?ikta? den Triumph der Demonstranten über die Polizei mit Hunderten Bengalos gefeiert. Jetzt sitze ich hier mit der türkischen Bourgeoisie und hoffe heimlich, dass Maomettos Pferd auf die Bühne schei?t.
Und dann erreicht mich eine neue E-Mail: Emrah, der sich als einer von Malis ?ltesten Freunden vorstellt, will sich mit mir treffen. Offenbar hat Mali ihn dazu angestiftet. Ich bin aufgeregt, denn das hier ist der erste Kontakt mit jemandem, der zumindest best?tigen kann, dass ich das alles damals nicht getr?umt habe.
“Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht über Mali zu reden”, sagt Emrah, als ich ihn in einem Restaurant in einer Seitengasse der Istiklal treffe. Dann kann er sich aber doch nicht bremsen, so sehr freut er sich, einen weiteren Verehrer Malis gefunden zu haben. “Mali war der ultimative Punk, er war die Muse unserer Szene”, schw?rmt er. “Jeder, der auch nur eine Party in dieser Wohnung erlebt hat, hat das gespürt”, sagt er. “Drogen, komische T?nze, dunkle Zeremonien – und Mali war immer so etwas wie der Voodoo-Priester, der spirituelle Anführer dieser Partys. Er hat sie gelenkt, und er hatte einen gro?artigen Musikgeschmack.”
Von Emrah erfahre ich, dass Mali durchaus auch gearbeitet hat, aber eigentlich immer nur, “um sich zu erholen und ein bisschen Abstand von der Szene zu bekommen”. Dann arbeitete er zum Beispiel mal für drei Monate in einer Bucht im Süden der Türkei. “Einfach, um wieder in Kontakt mit der normalen Welt zu treten – aber immer nur kurz.”
Emrah erz?hlt von der Szene damals, und dass es sich für ihn damals nicht gef?hrlich angefühlt habe, als verkleideter Schwuler durch Istanbul zu laufen. “Wenn wir kritisiert wurden, dann eher, weil es Leute genervt hat, dass wir so auf Drogen waren”, sagt er und lacht. Das beruhigt mein schlechtes Gewissen ein bisschen. Vielleicht bin ich doch nicht so ein Kotzbrocken.
Als ich gestehe, dass Mali für mich immer irgendwie ein R?tsel blieb, wird er ernst. “Er ist auch schwer zu verstehen. Er kann gemein sein. Aber gleichzeitig ist er der sensibelste und sanfteste Mensch, den ich kenne. Und ich kenne ihn jetzt schon seit fünfzehn Jahren.” Dann lacht er wieder. “Oh Gott, Mali ist bestimmt b?se, wenn ich erz?hle, dass er sensibel ist. Er will lieber als gemein gelten.”
Am Ende unserer Unterhaltung sagt mir Emrah noch, dass er nicht glaubt, dass ich Mali noch vor Redaktionsschluss dazu kriegen werde, mit mir zu reden. “Er braucht Zeit für so was, er muss sich vorbereiten.” Und er sollte recht behalten: Bis Redaktionsschluss hat mir Mali auf keine meiner vielen E-Mails mehr geantwortet. Aber jetzt, da ich wei?, dass er in Berlin lebt, kann ich mir trotzdem gut vorstellen, ihm eines Tages über den Weg zu laufen. Dann werde ich mich sehr freuen.
Aber selbst wenn nicht, werden mir Emrahs Worte in Erinnerung bleiben. “Mali ist der originellste Mensch, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet bin. Du hattest Glück, dass du ihn eine Weile miterleben durftest.”
Emrah hat recht, ich hatte damals sehr viel Glück. Nicht nur mit Mali. Die Zeit, in der ich in Istanbul lebte, sorglos und zufrieden wie ein Fisch in der Raki-Flasche, gilt offenbar noch heute als die beste, die Istanbul je erlebt hat – das wird mir auf dieser Reise immer wieder gesagt. Und dann auch noch Gezi: Alle, die dabei waren, bekommen ein Leuchten in den Augen – alle, die es verpasst haben, sind untr?stlich. Aber sicher ist, dass ich vor elf Jahren gleich dreimal das Glück hatte, etwas einmaliges zu erleben: das freiste Istanbul, das es je gab, die Gezi-Proteste, und Mali. Was kann man mehr verlangen?
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]]>Aber beginnen wir von vorne: 2013 filmte ich als Video Producer für VICE russische Grabr?uber, die illegal tote Wehrmachtssoldaten ausgruben. Der Moskauer Fotograf Claudio Oliverio begleitete mich. Doch dann stie?en wir auf eine andere Story. Wir lernten Alexej* kennen, damals 18 und Englischstudent. Er wolle uns eine unbekannte Seite von Moskau zeigen, sagte er. Einzig eine Angelhose sollten wir zum Treffpunkt mitbringen. In einem Park im Norden Moskaus lud er uns ein, in die Kan?le unter der Stadt zu steigen.
Die Rote Armee habe die Pl?ne des verzweigten Tunnelsystems im Zweiten Weltkrieg gr??tenteils vernichtet, sagte Alexej. Niemand wisse genau, wie viele Tunnel sich dort befinden, Neubauten br?chen manchmal darin ein. Au?erdem g?be es dort unten eine ganz annehmbare illegale Rave-Szene. Das klang nach einer spannenden Geschichte.
W?hrend ich Kamera und Mikrofone vorbereitete, machte sich Alexej mit einer Eisenstange an einem Gullideckel zu schaffen. Dabei be?ugte uns eine alte Frau mit skeptischen Blicken. Was sollte man auch von drei Typen denken, die mit Angelhosen und Stirnlampen bei strahlend blauem Himmel in einem Park stehen? Claudio und ich hatten keine Ahnung, was uns erwarten würde. Aber als Alexej den Deckel endlich aufbekam und mit einem bestimmten “Dawai!” in den Schacht hinabstieg, folgten wir ihm.
Angst br?uchten wir keine zu haben, sagte Alexej. Es sei denn, es würde regnen. Das würden wir so lange nicht mitbekommen, bis eine rauschende Flutwelle aus dem Regenwasser aller umliegenden D?cher auf uns zurast. Das sei aber kein Problem, da es alle 100 Meter einen Gullideckel zum Rausklettern gebe. Man müsse halt ein bisschen rennen. Nur wenn sich der “Notausgang” unterhalb einer vierspurigen Stra?e bef?nde, sei das nicht so gut, sagte Alexej. Da habe er mal zwei Stunden mit dem Wasser bis zum Hals unterhalb eines Gullideckels verharren müssen. Dann sei das Wasser wieder gesunken.
Mit einem mulmigen Gefühl folgten wir ihm in den leicht abschüssigen Tunnel, w?hrend ein kleiner Bach unsere Gummistiefel umfloss. Wir kamen gut voran, von Raves war allerdings nichts zu h?ren. Es fühlte sich wie eine entspannte H?hlenwanderung an, als Alexej unseren schweigsamen Marsch unterbrach: “H?rt mal da oben, die Touristen!”
Claudio und ich guckten uns mit einem Ach-du-Schei?e-Blick an. Offenbar waren wir genau unter dem Kreml durchgegangen. Jetzt standen wir unter dem Roten Platz. Wir hatten aber wenig Lust, wegen Spionageverdachts in einem russischen Knast zu landen. Wie h?tten wir auch erkl?ren sollen, was zur H?lle deutsche Journalisten unter dem Kreml suchten??
Alexej schien das nicht zu st?ren. “Hier seht ihr den Wasserauslass des Kreml-Bunkers”, sagte er beil?ufig. Ab diesem Moment wollten wir einfach nur noch weg. Wie bescheuert konnte man auch sein, einem 18-j?hrigen Pfadfinder sein Leben anzuvertrauen? Zumal in einem autorit?r regierten Polizeistaat.
Der einzige Ausgang bef?nde sich direkt hinter dem Roten Platz, sagte Alexej. Im Hof einer etwas weniger bekannten Kirche. Leider sei da manchmal jemand, aber wenn wir raus wollten, dann hier.?
Cool, 15 Meter über eine rostige Leiter mit einem Rucksack voller Kameraequipment. Leider war ich der letzte in der Reihe und hatte alle zwei Sprossen einen Teil der sich aufl?senden Leiter in der Hand. Nach den gefühlt anstrengendsten zwei Minuten meines Lebens sch?lten wir uns v?llig au?er Atem aus dem Gulli. Zum Glück lie? sich niemand blicken, und wir konnten den Innenhof der Kirche unbehelligt verlassen.?
Da wir leider weder ekstatische Untergrund-Raves noch geheime Waffenlager der russischen Mafia gefunden hatten, wurde aus dem Filmmaterial keine Dokumentation. Aber die Geschichte ist heute noch ein gutes Beispiel für die haarstr?ubenden Situationen, in die mich dieser Job gebracht hat.?
*Name ge?ndert.
Manuel Freundt war von 2012 bis 2024 bei VICE, zuletzt als Executive Producer
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]]>Ich führe das Interview für eine Filmseite. Potenzielle Skandalfilme mit cineastischem Anspruch gehen da immer gut. Idealerweise findet sich als Artikelbild eine Szene aus dem Film, die dementsprechend aufregend aussieht. Es gibt allerdings ein Problem: Google mag keine blutigen Nippel. Eigentlich gar keine Nippel, genauso wenig wie Blut in Schauspielgesichtern und ganz generell alles, was in irgendeiner Form nach Sex klingt. Resigniert speichere ich das sauber retuschierte Foto und verabschiede mich gedanklich von meiner Traum-Headline. Für VICE in den 2010ern w?re das der perfekte Artikel geworden. Die Zeit ist allerdings vorbei. Nicht nur für VICE, sondern für jeden, der über Online-Reichweite Geld verdienen will. Selbst Influencer zensieren sich lieber selbst, als für Worte wie “Penis” oder “Drogen” von den Algorithmen abgestraft zu werden.
Inhalte fühlen sich aber nicht nur sprachlich desinfiziert an, sondern liefern auch nur noch mehr dessen, was ich schon kenne. Wenn ich wirklich irgendetwas komplett Nischiges, Neues, Subkulturelles lesen m?chte, stolpere ich – mit Glück! – auf Reddit darüber. Das war’s. Und das t?tet langsam aber sicher nicht nur meine Freude am Schreiben und Lesen von Artikeln, sondern auch am Internet.
Ich bin aufgewachsen mit einem Internet, das sich angefühlt hat wie ein undurchsichtiger Wald. Beinahe mystisch. Man konnte alles finden und nichts. Man war angewiesen auf Leute, die sich in die dunkelsten Tiefen vorgewagt haben, um anschlie?end triumphal von ihrer Suche zurückzukommen. Weil sie etwas Wundersch?nes und Seltenes gefunden hatten oder etwas verst?rend Unbekanntes. Hauptsache interessant. Meine Teenager-Jahre fanden online statt, zwischen der Neugierde auf komplett neue Welten und der stetigen Angst, beim Klick auf einen Link doch bei Leichenbildern auf rotten.com statt dem neuen Remix irgendeines Westberliner Untergrund-Rapsongs zu landen.
Ich war in Chatrooms, in Foren, die schon lange vor Reddit Diskussionen zu bestimmten Themen bündelten und meinem edgy Teenager-Ich die verst?rendsten und konfusesten Filme, die abgefucktesten Mangas, die faszinierendsten Communitys er?ffneten, von denen ich noch nie geh?rt hatte. Das Internet war für mich ein Ort der Wahrheit und Ehrlichkeit, gerade weil Anonymit?t eine S?ule der Online-Experience darstellte. Das Internet war ehrlich, weil es einer der wenigen R?ume war, wo man sich als Mensch offenbaren konnte, ohne sein Gesicht zeigen zu müssen. Die Multiverse-Variante von Domian, im Positiven wie im Negativen.
VICE kenne ich in den mittleren 2000ern vor allem englischsprachig und visuell. Von Tumblr. Die Fotos zeigen sch?ne Menschen, maximal unvorteilhaft ausgeleuchtet, in Situationen, die eine Kaputtheit unter der Oberfl?che erahnen lassen. Für Video-Reportagen reisen die immer etwas ungl?ubig wirkenden Hosts auf der Suche nach dem Absurden, Abgefuckten, Unm?glichen um den Globus. VICE gibt meiner anonymen Internetwelt ein Gesicht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich selbst als Autorin bei VICE lande.
In einem der ersten aufw?ndigeren Texte, die ich für VICE.com schreibe, geht es um Vore. Ein Fetisch, bei dem Menschen die Vorstellung geil finden, von etwas Gro?em verschlungen zu werden. Das kann ein Monster sein, aber auch eine riesige Vagina. In letzterem Fall handelt es sich um eine Fetisch-Unterkategorie, die als Unbirthing bekannt ist. Wobei ich “bekannt” wahrscheinlich in Anführungszeichen setzen sollte. W?re das alles so bekannt, w?re es keine VICE-Story. Ich mache mir keine Gedanken darüber, wie viele Menschen diesen Text lesen. Ob sich die Klicks in einer Form monetarisieren lassen, die meine Arbeitszeit am Artikel rechtfertigen. Ich wei?, dass Menschen wie ich jeden Tag auf VICE.com gehen, um herauszufinden, was sie noch nicht über die Menschheit wussten. Es gibt schon Mitte der 2010er nicht mehr viele dieser Orte. VICE wirkt wie eine letzte Bastion.
Ich h?ufe Wissen an, das mich mal überfordert, mal verst?rt. Oft beides auf einmal. Vor allem ist es aber nichts, was sich locker in einem Gespr?ch auf einer Homeparty erz?hlen l?sst. “Wusstet ihr, dass es Shops gibt, in denen man künstlich hergestellte Drachenspucke kaufen kann, damit Leute sich in ihren Rollenspielen so authentisch wie m?glich gefressen fühlen k?nnen?” Liefert noch etwas Kontext, verweist auf zwei, drei Videos, die ihr zu dem Thema ausgegraben habt, und z?hlt die Sekunden, bis das Licht in den Augen eures Gegenübers erlischt. Recherche bedeutet nicht regelm??ig, aber oft genug, nachzusehen, ob es “auf Pornhub irgendwas neues Abstruses” gibt. Ich bin ein niemals endender Quell an Informationen vom Rand der menschlichen Existenz. Mainstream ist langweilig. Wenn alle darüber reden, interessiert es mich schon nicht mehr.
In den Augen anderer sind wir bei VICE die medialen Schmuddelkinder. Bei einem Reporter-Workshop fragen mich Leute nach meinem Arbeitgeber. “Wei??”, achso, das englische Wort? Nee, kennen sie nicht. Gleichzeitig stampfen gro?e Medienh?user junge Internetangebote aus dem Boden, die ihre Entsprechung zu VICE sein sollen. überall gibt es jetzt Ich-Reportagen und “Guckt mal, was andere Menschen fünf Jahre vor mir im Internet gefunden haben”-Essays. Nicht ganz so edgy natürlich. Aber zumindest so unbequem wie ein sehr kleiner Stein unter der Komfortsohleneinlage in den Doc Martens. Ich ertappe mich mehrfach bei dem Gedanken, dass ich andere Journalistinnen und Journalisten nicht sonderlich gut leiden kann. Vielleicht ist es auch Neid. Ich bin unterbezahlt, wenig wertgesch?tzt und arbeite mich tot für Themen, die ein paar Wochen sp?ter von anderen Medien übernommen werden. Den Applaus bekommen die anderen. Um den Traffic k?mpfen wir, zum Teil mit Themen und Headlines, die sich eher nach einer Parodie auf VICE anfühlen als authentischem Gegenkultur-Journalismus.
VICE muss erwachsen werden, wird uns auch intern zunehmend weniger durch die Blume nahegelegt. Wo sind die gesellschaftlich relevanten Recherchen? Also die Art von gesellschaftlicher Relevanz, mit der man Preise gewinnen und gro?e Sender-Deals abschlie?en kann. Oder zumindest seine Eltern beeindrucken. Warum wird hier nicht genauso gearbeitet, wie sich die Führungsetage den Alltag von “echten” Journalistinnen und Journalisten vorstellt? Also echter Journalismus, aber mit einem Bruchteil der Ressourcen und des Gehalts. Aber gut, auch nicht so richtig echter Journalismus, nicht dass sich potenzielle Werbekunden und -kundinnen (oder das saudische K?nigshaus) angegriffen fühlen. Und bitte auch nicht zu obskur, wonach googeln Menschen eigentlich gerade so? Denn: Die Hoch-Zeiten von Facebook, über das wir zwischenzeitlich den Gro?teil unseres Traffics einfuhren, sind vorbei. Jetzt kommt Google. Hier endet gerade etwas, denke ich damals. Und bevor ich gehen muss, gehe ich lieber selbst.
VICE ist nicht die einzige junge Website mit alternativen Themen, die in den kommenden Jahren zusammenklappt. VICE Deutschland macht 2024 nach 18 Jahren dicht. Bento, der jugendliche Ableger des Spiegels, ging aber schon 2020. Ze.tt existiert seit demselben Jahr nur noch als Ressort von ZEIT Online weiter. Watson startete als News-Portal für junge Menschen, ist mittlerweile aber vor allem eine ge?lte SEO-Maschine. Und Buzzfeed? 2023 erkl?rte der Gründer Jonah Peretti, vorher oft als vision?rer Retter des Online-Journalismus gefeiert, das Ende von Buzzfeed News – und damit von jedem journalistischen Anspruch. Seitdem h?ngt Buzzfeed am Life-Support von (immer h?ufiger KI-generierten) Quizzes, die mir verraten, welche Produkte besonders gut zu meiner Psyche passen.
Die Gründe dafür sind komplex. Vereinfacht l?sst sich wahrscheinlich sagen: Es lohnt sich finanziell nicht. Oder nicht mehr. “[VICE und Buzzfeed] glaubten beide, dass Reichweite alles sei und digitale Werbeschaltungen ausreichen würden, um die Inhalte zu finanzieren”, schreibt Medienexpertin Jane Martinson im britischen Guardian. Das habe sich als Fehlschluss herausgestellt, denn Reichweite führe nicht automatisch dazu, dass die Lesenden auch bereit seien, Geld auszugeben, und die Werbetreibenden seien weitergezogen.
Ich glaube, es gibt auch ein inhaltliches Problem: Die nachgewachsenen jungen Generationen konsumieren die Ich-Geschichten aus dem Unterbauch des Internets lieber auf Plattformen wie YouTube, vorgetragen von einer Person, zu der sie zumindest eine parasoziale Beziehung haben. Deren Meinung und Empfindungen für sie greifbarer sind als die einer Autorin. Rezo statt Hunter S. Thompson. Die sagen nur eben nicht mehr “ficken” ohne Wegpiepen oder denken sich für traumatische Themen komplett alberne Alternativbegriffe aus, um keinen Shadowban zu kassieren. Mascara für Penis, zum Beispiel. Algo-Speak nennt sich das.
Die 2000er sind angeblich zurück, sagen die gleichen Influencer auf TikTok, liest man bei VOGUE, h?rt man in den Samples der Hits, die aktuell Spotify dominieren. Aber nur die ?sthetik, nicht das, was dahinter liegt. Das Internet – in heutigen Zeiten also alles – geht nicht zurück zu dem, was war. Der Wildheit, dem Unoptimierten. Als Yahoo Tumblr aufkaufte, entfernten sie als Erstes alle Darstellungen weiblicher Nippel oder anderweitig sexualisierte Bilder. Nur die nostalgische Oberfl?che scheint profitabel, auch wenn Yahoo der Blogging-Plattorm damit endgültig das Genick brach.
Was für eine Welt das ist, in der sich selbst junge Menschen nicht einmal mehr trauen, “Sex” in eine Handykamera zu sagen, weil sie glauben, durch Selbstzensur den strengen Maschinen zuvorzukommen, die wir nicht mit Gedanken füttern, sondern mit Content? Nun ja, die Realit?t. Eine Realit?t, in der die oben angesprochenen Werbetreibenden nur dort Werbung schalten, wo sie sich wohlfühlen. Wo es keine blutigen Kinne oder Nippel gibt, keine b?sen W?rter, keine allzu strittigen Themen, dafür halboffizielle Listen mit verbotenen Begriffen, nach denen sich nicht nur Influencer richten müssen, sondern alle Medienschaffenden. Brand Safety, das journalistische ?quivalent zur Lobotomie. Das Ergebnis ist inhaltlicher Einheitsbrei. Z?hne hat hier schlie?lich kaum noch wer, rechnet sich nicht.
Dafür Google Docs und immer neue Programme, die mir ganz genau auswerten, wer wann wie lange meinen Content konsumiert hat. Und damit ich wei?, welchen Content ich als N?chstes zu produzieren habe, analysiere ich in meiner Zeit nach VICE für neue Arbeitgeber vergangenen Output und antizipiere, was die Leute wann googeln werden. Weil ich nicht die einzige bin, die das macht, ist es komplett egal, auf welcher Seite man einen TV-Tipp liest oder wer mir rechtzeitig zur Fu?ball-WM in einer übersichtlichen Slideshow erkl?rt, wer die Spielerinnen der Nationalelf sind. Alles gleich, alles Content, alles für Google optimiert. Denn was für mich interessant sein k?nnte, entscheiden nicht mehr ich oder ein anderer, echter Mensch. Algorithmen entscheiden das. Ich bin Journalistin und so sieht mein Job in den 2020ern aus.
“Eine Handvoll gigantischer sozialer Netzwerke hat den offenen Raum des Internets übernommen und unsere Erfahrungen durch ihre undurchschaubaren und stetig im Wandel begriffenen Content-Sortier-Systeme zentralisiert und vereinheitlicht”, beschreibt es Kyle Chayka 2023 für den New Yorker. Welcome to hell.
Dazu passt, dass Künstliche Intelligenz in den Augen vieler ohne jegliche Abstriche menschliche Kreativit?t ersetzen kann – eine KI baut anders zusammen, was schon existiert, was schon bekannt ist, was sich schon als effektiv erwiesen hat. Die Chefs der Redaktionen beklatschen Künstliche Intelligenz als redaktionellen Game-Changer, weil es schei?egal ist, ob irgendjemand die so entstandenen Inhalte gut findet. Schon jetzt lese ich Texte von Menschen, die klingen, als w?ren sie von Maschinen, weil sie nicht für Menschen, sondern für Maschinen geschrieben werden. Ich lese Texte, die mich wünschen lassen, keine Augen zu haben und Informationen über die Haut aufzunehmen.
Ich brauche gar nicht zu raten, wie gro? die Wahrscheinlichkeit ist, dass das alles schlimmer wird. Experten beschreiben der amerikanischen Technikseite The Verge eine Zukunft, in der Google von “KI-generierter Schei?e” überschwemmt würde, die nicht mal mehr so tut, als sei sie für etwas anderes als Algorithmen geschrieben worden. Und Google ist der Knotenpunkt, die gro?e mechanische G?ttin des Internets, die um jeden Preis zufrieden gestellt werden muss. “Vielleicht ist das der Grund, warum so gut wie jeder SEO hasst”, schreibt die Journalistin Amanda Chicago Lewis im selben Artikel für The Verge. “Diese Praktik hat erfolgreich die Illusion zerst?rt, dass es im Internet jemals um etwas anderes ging, als Dinge zu verkaufen.”
Die Wahrheit ist: Nicht alles an VICE war geil. Was sich offen und edgy anfühlte, hatte oft eher einen Freakshow-Charakter. Im Nachhinein frage ich mich, ob man vielen Gespr?chspartnerinnen und Gespr?chspartnern nicht einen gr??eren Gefallen damit getan h?tte, ihre Interessen nicht an die ?ffentlichkeit zu zerren. Auch die Blasiertheit, alles schon gesehen zu haben und aus Selbstschutz oder Abgestumpftheit so gar nichts dabei fühlen zu wollen au?er amüsierten Nihilismus, finde ich heute in der Form nicht mehr cool. Diese Zeit war wichtig für meine Entwicklung als Autorin, aber ich bin ihr entwachsen.
Doch wenn ich heute an das VICE denke, das ich vermissen werde, denke ich nicht an bewusst verletzende Hot Takes, diskriminierende Witze, das beschissene Gehalt und die überstunden oder Gavin McInnes. Ich denke an eine ?ra, in der nicht alles eine Kopie einer Kopie einer Kopie war. In der es sich bedeutsam anfühlte, wer einen Text schreibt, weil Artikel je nach Autor oder Autorin unterschiedlich aussahen, unterschiedlich aufgebaut waren. Spa? gemacht haben. überrascht haben. Mich als Person mit progressivem Weltbild und unstillbarer Neugier ernst genommen haben. Ich denke an ein Internet der Menschen, nicht der Maschinen. So dumm und naiv das auch klingen mag.
“Ich denke an junge Menschen, die versuchen, es in der Branche zu schaffen. Die brauchen Orte, an denen sie sich selbst formen k?nnen, ihre Stimmen ausprobieren, eine Person werden”, sagte die kanadische Journalistin Amil Niazi in einem CBC-Podcast über ihre Zeit bei VICE. “Das hier war einer dieser Orte.”
Das Ende von VICE in Deutschland fühlt sich an wie ein gebrochenes Herz. Oder wie die Erinnerung an ein gebrochenes Herz, denn zusammen waren VICE und ich schon lange nicht mehr. Deswegen kann ich Folgendes mit leicht feuchten Augen und traurigem L?cheln schreiben und an die guten Zeiten denken: Tschüss VICE. Tschüss abgründiges Abenteuer, das deine Art von Online-Journalismus war. Tschüss Internet, mit dem ich erwachsen geworden bin. Ich habe euch geliebt.
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]]>VICE: Wie ist die Stimmung auf Rüstungsmessen? Nikita Teryoshin: Ein bisschen wie in schlechten Hollywoodfilmen.
**Was meinst du genau?
**Man sieht dort viele Klischees. Zum Beispiel die typischen Bad Guys. M?nner in schlecht sitzenden gl?nzend-grauen Anzügen. Aber auch Saudis in traditioneller Kleidung und uniformierte Milit?rs aus aller Welt. Eine interessante Mischung. Dazu gibt es H?ppchen, Wein und Bier – beziehungsweise in Abu Dhabi viel Sü?es.
**Eine entspannte Atmosph?re.
**Ja, tats?chlich. Man erlebt dort einen krassen Gegensatz zum Krieg.
**Deine Fotos zeigen vor allem M?nner. Entspricht das dem Bild vor Ort?
**Kürzlich habe ich ein Werbevideo einer Waffenmesse in Saudi-Arabien gesehen. Darin betonen die britischen Veranstalter, dass man durchaus darauf achte und sich freuen würde, mehr Frauen in diesem Business zu begrü?en. Das ist genauso absurd, wie für recycelbare Bomben zu werben.
**Selbst die Waffenindustrie will diverser werden?
**Diverser und klimagerechter. Da nimmt die Rüstungsindustrie auch kein Blatt vor den Mund. Zum ersten Mal ist mir das in Moskau bei einer Waffenmesse aufgefallen. Dort war ein Kalaschnikow-Sturmgewehr ausgestellt und dazu die Worte: “70 years defending peace.” Ich fand das unglaublich. Mit der Kalaschnikow wurden weltweit wahrscheinlich die meisten Menschen erschossen. Auf einer Messe in den USA wurde wiederum ein Panzer mit den Worten “Engineered for life” angepriesen.
**Zeigst du die Gesichter der Besucher deshalb nicht, weil die Rüstungsindustrie am liebsten unsichtbar bleibt?
**Es war auch als Metapher dafür gedacht, dass diese Industrie am liebsten unter dem Radar der Medien agiert. Dadurch kommt es auch zu solch unglaublichen Slogans, zu Bes?ufnissen und anderen irrsinnigen Geschichten auf den Messen. Die sind nur für ein Fachpublikum zug?nglich, aber ich finde, dass die ?ffentlichkeit davon erfahren sollte. Denn w?hrend immer irgendwo Krieg herrscht, wird auf diesen Messen gefeiert. Der Tod lauert um die Ecke, aber er ist auch weit weg.
**Welche irrsinnigen Geschichten hast du auf Rüstungsmessen erlebt?
**Eine davon war sicher eine Torte, die in Abu Dhabi serviert wurde. Man sah darauf eine modellierte Explosion, um die Kampfjets flogen. Au?erdem Panzer, ein Kriegsschiff und einen Soldaten. Irgendwelche Milit?rs haben sie dann mit kleinen Plastikgabeln verspeist. Ich fand das unfassbar. Man kennt solche Torten von Hochzeiten oder Firmenfeiern. Aber dort wurde damit komplett zynisch der Krieg abgefeiert. Zur gleichen Zeit führte eine Koalition aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Jemen einen Krieg gegen die Huthi, in dem sie auch Schulen und Krankenh?user bombardierte. Nicht mal 1.000 Kilometer entfernt. Und dort essen sie diesen Kuchen. Das sind diese Momente, in denen du überlegst, wie du das überhaupt mit der Kamera einfangen sollst.
**Wie erh?ltst du als Fotograf, der sich kritisch mit Rüstungsmessen befasst, dort überhaupt noch Zutritt?
**Ich glaube nicht, dass sich die Veranstalter solcher Messen für Fotokunst interessieren. In den Jahren 2018 und 2019, als ich auf circa fünf Messen pro Jahr war, habe ich die Arbeit aber bewusst nicht auf meiner Homepage gezeigt. 2016 hatte ich die ersten Fotos auf VICE.com ver?ffentlicht, woraufhin sie um die Welt gingen und in vielen weiteren Publikationen landeten. Als ich eine Ausstellung in Stra?burg hatte, sagte jemand, dass es auf den Fotos wie im ?back office of war“ aussehe. Das fand ich sehr passend. Deshalb hei?t die Serie und das Buch dazu auch Nothing Personal – the back office of war.
**Wie haben die Menschen auf dich und deine Kamera reagiert?
**Ich habe bei dieser Arbeit einen durch VICE inspirierten Gonzo-Ansatz verfolgt. Dabei kam ich mir oft wie ein Alien vor. Ich dachte, ich habe überhaupt keinen Plan von Waffen und wenn mich jemand fragen würde, was ich von diesem oder jenem halte, würde ich sofort auffallen. Au?erdem kannst du nicht untertauchen, wenn du alle anblitzt. Aber ich hatte den Vorteil, dass ich die Leute ohnehin anonym fotografieren wollte. Und wenn jemand etwas vor dem Gesicht hat, f?llt ihm auch nicht mehr so auf, dass er fotografiert wird. Oft denken die dann, dass ich nicht sie fotografiere, sondern eine Bombe oder so.
Es gibt ein Foto von einem Offizier in Minsk, der vor einer Satellitenschüssel steht. Deren Schrauben bilden einen Heiligenschein um seinen Kopf. Als ich ihn fotografiert habe, drehte er sich um und sagte: ?Oh, Entschuldigung, ich gehe mal besser beiseite.“ Ich habe dann gesagt: ?Nein danke, Sie haben das schon perfekt erg?nzt.“ Aber das zeigt, dass die Leute da in einer Bubble sind.
**Wie denkst du über diese Leute?
**Man wei? natürlich nie, in welcher Funktion die Leute vor Ort sind. Auch deshalb wollte ich keine Gesichter zeigen. Wahrscheinlich findet dort jeder seine eigene Rechtfertigung und redet sich das sch?n. Das gibt es auch, wenn man Fleisch isst, obwohl man die kleinen Ferkelchen sü? findet. Jeder kennt das. Ich glaube zwar schon, dass es bei Waffenmessen auch wirklich b?sartige Leute gibt. Aber es ging mir nicht darum, das personifizierte B?se abzubilden. Es ging mir eher um die Banalit?t. Diese Mischung aus neuester Technik, irgendwelchen H?ppchen und dem Tod, der immer über allem schwebt.
**Was hast du in all den Jahren über die Rüstungsbranche gelernt?
**Je schlechter es der Welt geht, desto besser geht es Rüstungsfirmen. Wahrscheinlich ist das die zynischste Industrie der Welt. Einmal wurden meine Fotos von einem Magazin abgelehnt, weil sie zu zynisch seien. Aber es sind nicht die Bilder, die zynisch sind, sondern das, was sie zeigen.
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]]>Wenn wir schon unsere Regenw?lder und Ozeane für sie aufgeben, dann soll wenigstens der Weltuntergang uns geh?ren. Ich will vorbereitet sein. Doch womit soll man anfangen, wenn alles aufh?rt? Mit Listen wie dieser zum Beispiel, klar. Mit dem Genie?en, jede Sekunde auskosten auf eine “Jeder Tag k?nnte dein letzter sein”-Wandtattoo-Art. Oder mit dem Verabschieden. Ich konnte mich noch nie gut verabschieden. Wenn ich mit Menschen um einen Tisch sitze und einige sch?ne Stunden mit ihnen verbracht habe, kommt mir jeder Moment ungelegen dafür vor. Soll ich jetzt aufstehen und verkünden, dass es vorbei sei, dass ich gehe? Wen umarmt man zuerst, wenn man geht? Wen als N?chstes? Im Uhrzeigersinn, gegen den Uhrzeigersinn? Ist es unh?flich, nur zu winken?
Und wen umarmt man, wenn alles geht?
Ich wei? nicht, wann der Weltuntergang kommt. Ich wei? aber, dass ich dann sch?n aussehen will. Ein bisschen so, wie wenn man mit Lippenstift G?ste an der Tür begrü?t. Ich will gut aussehen, vielleicht sogar unangenehm gut. So, dass sich der anklopfende Weltuntergang gezwungen fühlen würde, ein Kompliment zu machen. Wahrscheinlich würden wir alle sch?n aussehen, denn kurz bevor die Credits über den Bildschirm ziehen, schwillt doch immer die Musik an, und alles ist in einen Sonnenuntergang getaucht.
Bevor die Welt untergeht, würde ich versuchen, mich wichtig zu fühlen. Vor ein paar Tagen besuchte ich einen Barbier, damit er in meine Augenbraue reins?gt. W?hrend ich da zurückgelehnt auf dem Stuhl lag, fühlte ich mich cool. Und wenn die Welt untergeht, würde ich daran denken. Und daran, dass jemand mal von mir getr?umt hat. Von mir und einer berühmten Pop-Literatin, und wie wir heimlich Designerdrogen nehmen. Vielleicht würde ich sie suchen und das alles endlich wahr machen.
Auch bei VICE: Drogen Sex und Tod auf den Mega-Yachten der Milliard?re
Kurz vor dem Weltuntergang w?re überall viel los. Und ich w?re überall. Ich würde dann überall Cosmopolitans bestellen, weil ich nie Cosmopolitans trinke. Sowas macht man sowieso nur in Filmen. In Filmen, in denen immer alle ein Telefonat beenden, ohne sich zu verabschieden, in denen jede Begegnung schicksalhaft scheint, in denen die Welt It-Girls geh?rt, die Cosmopolitans trinken. Heute würde mir die Welt geh?ren. Und trotzdem würde ich bei den ersten Schlucken denken: “It’s better on TV.” It-Girls sprechen in Filmen immer Englisch. Ich würde mit Fremden ansto?en. Wahrscheinlich würde ich nicht damit aufh?ren, die Songs in der Bar zu shazamen. “Tell us a story, I know you’re not boring”, singen The Strokes.
Ich würde die Sprüche und Sticker an der Klowand lesen wie Teebl?tter. Sie würden mir die Zukunft vorhersagen. Liebe, Telefonnummern. Es würde gut aussehen.
Und kurz w?re mir Coolsein nicht so wichtig. Ich würde ehrlich sein wollen. Mit allen. Einmal traf ich einen Ex-Typen Ewigkeiten nach unserer Zeit. Und wir sagten uns bei einem stotternden Spaziergang, wen wir jetzt daten würden und wie gut alles sei. Ein bisschen meinten wir damit auch, dass es gut sei, dass es mit uns nicht geklappt hat. So würde ich das machen. Ich würde Vers?hnung wollen.
Vielleicht würden Leute aufh?ren mit dem Tagtr?umen und einfach nur noch tun. Ich nicht. Ich würde nicht aufh?ren zu wünschen. Ich würde mir vorstellen, wie ich andere bin. Ich würde mir vorstellen, dass ich eine Person bin, der ein Winged-Eyeliner gelingt. W?re ich sie, w?re ich eine sehr geordnete Person, die ihre Sonnencreme nie vergisst und ihre Zeit nicht damit verschwendet, allergisch auf Kiwi zu sein, und in deren Tasche keine losen Kaugummis zwischen zerknautschten U-Bahn-Tickets liegen.
Ich würde wütend sein, ich würde R auf den letzten Metern viel Schlechtes wünschen. Und es nicht bereuen. Ich würde J Schlechtes wünschen. Und es bereuen. Ich würde sowieso vieles bereuen. Oder vielleicht auch nicht. Das Knutschen an einem Abend, das Nicht-Knutschen an einem anderen, das zu frühe Nachhausegehen, das zu lange Bleiben. Wahrscheinlich war alles gut so.
Ich würde über die Mars-Milliard?re nachdenken und über die innere Leere, die sie spüren werden, nachdem sie auf den Mars gezogen sind und in einer Expedition den Mond umrundet haben, und kein anderes kolonialistisch angehauchtes Abenteuer mehr auf sie wartet. Ich würde mir vorstellen, wie sie mit einem Raumschiff mit DIY-Controller in Schwarze L?cher fliegen.
Ich würde Dinge tun, die mir beweisen, dass das alles wichtig ist. Ich würde alles wissen wollen über die Menschen, die ich mag. Ich würde alle Geheimnisse wissen wollen und würde allen meine erz?hlen. Ich würde “Wei?t du, was ich meine?” sagen und verstanden werden.
Und ich würde Dinge tun, die mir beweisen, dass das alles belanglos ist, dass man machen kann, was man will. Ich würde It-Girl sein, auf Vampirlifting pfeifen, den ganzen Tag behaupten, nicht zu wissen, wer irgendwelche berühmten M?nner sind.
Ich würde meine Freund*innen sch?n finden. Wahrscheinlich würden wir ein bisschen weinen, weil es merkwürdig w?re, nicht auch ein bisschen traurig zu sein. Und ich würde uns trotzdem sch?n finden. An dem Tag würde uns alles stehen.
Ich würde keinen meiner offenen Tabs schlie?en. Die Chlo?-Sevigny-Wikipedia-Seite würde auf ewig in meinem Handy weiterleben.
Irgendwann w?re es auch Zeit, in sich zu gehen. Ich würde hoffen, dass jemand etwas vorbereitet hat, eine Rede. Ich halte keine Reden und würde auch nicht in einer Extremsituation damit anfangen. Am besten sollte das eine Person sein, die selbst etwas wie den Weltuntergang gut verkaufen kann. Beraterinnen für die Tabaklobby oder Priester zum Beispiel. Wir würden and?chtig zuh?ren und nicken.
Und ich würde vieles machen wie an jedem anderen Tag. Ich würde neben Menschen stehen, die ich mag, und wir würden dort sitzen, wo wir immer sitzen, und sagen, dass wir am besten Ort der Welt leben. Wir würden in Bars gehen, in denen man bereits wei?, was wir trinken wollen. Ein bisschen w?re auch das wie im Film. Wahrscheinlich w?ren wir dann aber nicht die It-Girls. Wir w?ren die verwegenen Hauptfiguren, so Bad-Boy-Typen mit gehobener Augenbraue, die einen Dirty Martini über den Tresen zugeschoben kriegen. In dem Film geht es dann um Coolaussehen und ein bisschen um Verliebtsein und vielleicht auch um Rauchen und um ganz viel Leben. Und darum würde es uns auch gehen. Und um uns, wahrscheinlich würde es auch noch um uns gehen. Das Licht würde stimmen, die Musik auch.
Wir würden ehrlich sein. Und sagen, wie gut alles war.
Vielleicht würden wir dann vergessen, wen wir zuerst umarmt haben. Vielleicht würden wir auch niemanden umarmen, weil wir uns zu gut kennen, um uns zu umarmen, weil wir schlecht sind im Verabschieden, weil wir besser sind im Bleiben.
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]]>The post Fotos: Crystal und Uran im Erzgebirge appeared first on VICE.
]]>Jahre sp?ter habe ich dann von einer weiteren Wahnsinns-Substanz aus dem Erzgebirge erfahren: Uran. Nach der Zündung der ersten Atombomben durch die USA wollten die Sowjets unbedingt nachziehen. Im gesamten Einflussgebiet der Sowjetunion gab es aber nur eine bekannte Uranlagerst?tte: Johanngeorgenstadt, eine alte s?chsische Bergarbeiterstadt an der Grenze zur Tschechoslowakei. Um den Bau sowjetischer Atombomben zu erm?glichen, wurde schnell eine neue Mine mit dem klingenden Namen Objekt 01 gegründet und aus dieser in kürzester Zeit enorme Mengen Uran gef?rdert.
Gab es 1946 nur 63 Bergleute in Johanngeorgenstadt, explodierte die Belegschaft pl?tzlich. Auf dem H?hepunkt des Uranbergbaus 1953 arbeiteten fast 70.000 Bergleute in drei Schichten. Dabei gruben sie Hunderte Kilometer G?nge unter der Altstadt, bis diese einsturzgef?hrdet war und Mitte der 50er Jahre komplett abgerissen werden musste. Als Ersatz wurde eine sozialistische Planstadt gebaut.
Das Ende der DDR, die Ersch?pfung der Uranvorkommen und der folgende Strukturwandel haben Johanngeorgenstadt noch einmal hart getroffen. Heute liegt die Einwohnerzahl wieder auf dem Niveau von 1830, der Altersdurchschnitt geh?rt zu den h?chsten des Landes und die Stadt hat keinen Ortskern mehr. Es gibt fast keine Restaurants und Gesch?fte. Zum Essen und Haareschneiden l?uft man einfach über die Grenze nach Pot??ky, wo man auf den vietnamesischen M?rkten Nazi-Devotionalien kaufen kann – und Crystal, wenn man nur lange genug sucht.
Für diese Fotostrecke habe ich im Februar zwei Tage in Johanngeorgenstadt verbracht.
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]]>The post Wie ich bei einem Fetischdreh eine ungew?hnliche Familie kennenlernte appeared first on VICE.
]]>Es war einer der letzten Drehs für Wild Germany, ein Reportage-Format, das VICE zwischen 2011 und 2013 im Auftrag von ZDFneo produzierte. In der Folge “Furry und Fetisch” zeigten wir Menschen, die sich gern als Tiere verkleiden. Die “Furrys” tun das als Teil der Cosplay-Szene. Die anderen, die wir für diese Folge trafen, weil es ihnen sexuelle Erfüllung bringt, sich als Tier zu fühlen und wie ein Pferd geritten, wie ein Hund erzogen oder wie ein K?tzchen gekrault zu werden.
Dabei trafen wir auch den Sch?pfer der au?ergew?hnlich sch?nen und naturgetreuen Pferdekostüme der Tier-Fetisch-Szene. Es wurde bereits dunkel, als wir auf seinem kleinen Hof in einem winzigen Dorf bei Hannover ankamen. Ein streng blickender und sehr kontrolliert wirkender Mann erwartete uns vor einem Stallgeb?ude. Drinnen gab er uns eine Einführung in seine Welt der Pferdemasken, Trensen für Menschenk?pfe, behuften High Heels und S?ttel.
Ich stand da als Regisseurin in dieser Werkstatt, beobachtete das konzentriert arbeitende Drehteam und dachte, welches Privileg es ist, in diese vielen unterschiedlichen Lebensrealit?ten reinzuschauen. Dieser Meister der minuti?sen Bastelkunst war im zivilen Leben Chirurg. Nach dem Dreh lud er uns ein, in seinem Haus mit seiner Familie zu Abend zu essen. Wir willigten ein, aber der Gedanke, den ernsten Chirurgen in sein Haus zu begleiten, bereitete mir leichtes Unbehagen.
Als er schlie?lich die Haustür ?ffnete, entfaltete sich die w?rmste, freundlichste Atmosph?re, die man sich nur vorstellen kann. Eine hochschwangere Frau, umtobt von zwei oder drei Kleinkindern, lud uns freundlich an einen riesigen Tisch ein. Hier taute der Chirurg langsam auf und wurde fast herzlich. Wir sa?en, a?en, lachten und w?rmten uns in diesem Kontrast zu allem, was wir davor in der Scheune erlebt hatten.
Denn wir wussten ja, wie es war, die Kreationen unseres Gastgebers in Aktion zu sehen.
Bei einer anderen Gelegenheit hatten wir ein P?rchen getroffen, das mit den Kostümen des Chirurgen ausgestattet eine erfüllte “Pferdem?dchen und ihr Pferd”-Beziehung lebte. Sie sattelte ihren Freund t?glich, um ihn dann zu reiten. Auf einer ?ffentlichen Wiese zeigten uns die beiden, wie der Teil aussieht, der nicht im Schlafzimmer passiert und als Vorspiel dient. Wir staunten, mit welcher Ernsthaftigkeit die beiden ihr Spiel lebten.
Aus Spa? fragte ich unseren Moderator, ob er nicht auch mal das Pferd sein wolle. Und er wollte! So entstand in diesem Moment eine meiner Lieblingsszenen aus der gesamten Zeit: Er lie? sich die Trense anbringen, nahm bereitwillig das Mundstück zwischen die Z?hne und schon ritt ihn die kleine, energische rothaarige Frau über die Wiese.
Anika Knudsen war von 2011 bis 2019 bei VICE, zuletzt als Senior Producer / Director.
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]]>Die Theorie: Alles Alte aus dem K?rper entfernen und gegen Neues ersetzen. Dann stirbt man nicht – oder sehr viel sp?ter. In der Praxis bedeutet das: komplizierte medizinische Verfahren, um die verschiedensten Zellen auszuwechseln. Aber wollen wir das? Ist das Leben nicht deshalb so sch?n, weil es endlich ist?
Denken wir das mal durch. Wenn wir alle 1.000 Jahre alt werden, geht irgendwann der Platz auf der Erde aus. Wir müssten uns also entscheiden, ob wir selbst ein paar Jahrhunderte abpimmeln oder eigene Kinder in die Welt setzen wollen. Wenn aber nur noch alteingesessene Extremsenioren die Regeln machen, stagnieren Gesellschaft und Kultur. Das kann man dank der CSU so schon heute in Bayern beobachten. Au?erdem: Behindern wir nicht die Evolution, wenn wir den natürlichen Tod mehr oder weniger abschaffen? Müssen wir uns nicht fortpflanzen, um uns biologisch anzupassen? Und sowieso: Wer bezahlt diese extrem lebensverl?ngernden Ma?nahmen? Die meisten gesetzlichen Krankenkassen übernehmen nicht einmal eine Zahnreinigung. Wenn sich also nur Selbstzahler die Tausendj?hrigkeit leisten k?nnen, laufen irgendwann nur noch reiche Alte durch die Gegend. Die Welt verk?me zu einem Golfplatz.
Also rufen wir bei Aubrey de Grey in Kalifornien an. Wir treffen auf einen unterhaltsam st?rrischen Mann, der uns im Laufe des drei?igminütigen Gespr?chs dreimal ein herzliches “Grow the fuck up!” entgegnet.
Menschen, die sagen, dass Sterben zum Leben dazugeh?re, sind “kleingeistige Trottel”, sagt Aubrey de Grey. Die würden so lediglich versuchen, mit dem Tod fertig zu werden. Alles Bullshit: “Das Altern und die damit einhergehende Gebrechlichkeit sollten wir nicht l?nger hinnehmen.” Der Wissenschaftler fordert, das Altern grunds?tzlich neu zu betrachten. Nicht als unumg?nglichen Prozess, sondern als Krankheit. Und zwar als eine, die wir in Zukunft heilen k?nnen. Er, Aubrey de Grey, sei da schon dran. “Stellen Sie sich den Menschen als Auto vor. Die werden so konzipiert, dass sie vielleicht 15 Jahre halten. Danach ist der Verschlei? so gro?, dass vielleicht der Motor den Geist aufgibt. Aber Motoren kann man auswechseln. Das gleiche gilt für Menschen.” Wer da mit irgendwelchem Moralgeschw?tz ankomme, sei ein infantiler Dummkopf, sagt de Grey, um sich dann auf die Gegenargumente zu stürzen.
Das Szenario einer drohenden überbev?lkerung? l?sst de Grey nicht gelten. Platz gebe es genug, n?mlich 13 Milliarden Hektar. Selbst wenn sich Eintausendj?hrige in 900 Jahren fortpflanzen wollen würden. “Derzeit k?nnte jeder Mensch allein auf 1,6 Hektar Land leben”, sagt De Grey. “Bis der Platz ein Problem wird, muss eine Ewigkeit vergehen, und darum k?nnen sich dann ja wohl die Menschen in der Zukunft kümmern.” OK.
Und wer soll die wiederkehrenden Zellerneuerungen bezahlen? Die Krankenkassen, sagt de Grey. Ganz sicher werde jedes Land mitmachen. Denn kein Land k?nne es sich noch viel l?nger leisten, Menschen mit Alterserscheinungen am Leben zu halten. “Alt werden ist eine wirtschaftliche Katastrophe.” Die medizinischen Prozedere, an denen er forscht, seien auch kein Eingriff in die Evolution. Zumindest kein gr??erer als existierende Verfahren, mit denen man heute schon unerwünschte Gene ausschalten kann.
Und was würde es gesellschaftlich und kulturell bedeuten, wenn Tausendj?hrige auf der Erde lebten? “Wei? ich doch nicht”, sagt De Grey. “Ich bin Biologe.”
Nach Aubrey de Greys überzeugung gibt es sieben Ausl?ser fürs Altern und somit Sterben: Zellverlust, sich unaufh?rliche teilende Zellen, todesresistente Zellen, mitochondriale Mutationen, intrazellul?rer Abfall, extrazellul?rer Abfall und die extrazellul?re Matrixversteifung. Kurz gesagt: tote, defekte oder fehlerhafte Zellen. Im Laufe eines Lebens tummeln sich immer mehr davon im K?rper und verursachen schwache Herzen, vergessliche Gehirne und krachende Knie. Aber nicht mit de Grey. In der Theorie habe er für alle Ausl?ser des Alterns Behandlungsmethoden gefunden. Etwa eine Stammzellentherapie, um Herzen und Gehirne zu flicken. Aber auch eine Therapie mit Enzymen, die kaputte Zellen aus dem K?rper r?umen. Obendrauf g?be es dann noch eine Ladung neuer, funktionstüchtiger Mitochondrien, die Energie produzieren.
In der Praxis sei das natürlich alles nicht so einfach und es dauere noch ein paar Jahre, aber wenn er weiter so vorankommt wie bisher, sieht es gut aus. “Heute 60-J?hrige k?nnten schon ihren 150. Geburtstag erleben”, sagt de Grey. Und daran finde er auch nichts verwerflich.
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]]>Als Braut in spe verkleidet wollte ich mich mit meinen Freunden Martha, Mert und Zana kostenlos durch die Nacht trinken und von fremden M?nnern über Türschwellen der K?lner Kneipen tragen lassen. Nebenbei wollte ich das Konzept Junggesellinnenabschied “kritisch hinterfragen”. Mit all seinen Zw?ngen und manchmal seltsamen Traditionen. Doch mein Selbstexperiment ist gefloppt.
Wir bekommen an diesem Abend keinen einzigen Kurzen ausgegeben und begegnen auch keiner Party-Crew mit Mottoshirts und Bauchladen. Das K?lner Partyvolk ist wohl noch müde von Karneval. Die Bars und Kneipen sind leergefegt und auch das Thekenpersonal juckt mein Junggesellinnenabschied überhaupt nicht.
Anruf in der Redaktion.
“Und was habt ihr stattdessen gemacht?”, fragt der Redakteur, nachdem ich ihm von unserem Abend erz?hlt habe.
“Wir haben Shots getrunken, die Flaming Asshole und Blowjob hei?en. Und wir haben gel?stert. über die realit?tsfernen Vorstellungen, die unsere albanischen, kurdischen und türkischen Familien teilweise von unserem Liebesleben haben.”
“Interessant”, sagt der Redakteur. “Warum schreibst du nicht darüber?”
Ja, warum eigentlich nicht? Schlie?lich stelle ich immer wieder fest, dass viele Menschen nicht wissen, was es bedeutet, als Kinder ausl?ndischer Eltern in Deutschland aufzuwachsen und zu daten. Wir sind genervt von penetranter Neugier, unsensiblen Kommentaren und der uns zugeschriebenen Opferrolle. Denn viele von uns widersetzen sich den konservativen Werte- und Moralvorstellungen innerhalb unserer migrantischen Communitys. Wer davon nicht selbst betroffen ist, bekommt das aber nur selten mit.
Viele meiner in Deutschland geborenen albanischen, türkischen und kurdischen Freundinnen und Freunde daten heimlich. Aus Angst vor Ausgrenzung, psychischer oder physischer Gewalt. Auch Mert mit seinen türkischen Eltern und Zana, deren Familie albanische Wurzeln hat, treten deshalb hier nicht unter ihren richtigen Namen auf. Dass die Partnerwahl meiner Freunde nicht den Erwartungen ihrer konservativen Eltern entspricht, kann mit Religion, Konfession, Ethnie oder auch der sexuellen Orientierung zu tun haben. Manchmal überschneiden sich die Gründe. Anstatt tagsüber gemütlich durch einen Park zu bummeln, verbringt man dann romantische Stunden auf einem dunklen Parkplatz oder versteckt sich in einer anderen Stadt.
Mit der Opferrolle identifiziert sich aber niemand von uns. Im Gegenteil. Die Parkplatz-Romanzen erfordern den Mut, pers?nliches Glück über konservative Familienwerte zu stellen. Das ist ein Kampf. Aber dass manche Dinge im Verborgenen passieren, ist eine bewusste Entscheidung und kein Akt von Schw?che.
Wir starten unseren Abend im Stiefel, einer beliebten Eckkneipe, die heute aber halbleer ist. Dort kommen wir auf ein Thema, das viele Leute in Deutschland zu faszinieren scheint: die riesigen Hochzeiten, die viele türkische und kurdische Paare feiern. Mein 30-j?hriger Kumpel Mert hat sich seine Traumhochzeit schon ausgemalt. Am Strand soll sie sein, sagt er, am liebsten im kleinen Kreis. Maximal 200 G?ste.
Für viele türkische und kurdische Hochzeitspaare geh?rt es dazu, sich für die Glückwünsche Hunderter fremder Menschen mit einem Küsschen zu bedanken. Das kenne ich auch aus meiner kurdischen Familie. Mein Bruder und meine Schw?gerin haben ihre Hochzeit mit knapp 1.000 G?sten gefeiert, sicherheitshalber hatten meine Eltern eine zus?tzliche Empore mit Platz für 200 G?ste gebucht. Ich liebe die Stimmung auf diesen XXL-Hochzeiten. Es macht Spa?, viele Familienmitglieder aus aller Welt wiederzusehen und mit Hunderten neuen Bekannten beim Govend abzugehen, einem traditionellen kurdischen Gruppentanz.
Warum er lieber im “kleinen” Rahmen feiern m?chte, frage ich Mert. “Ich will auf gar keinen Fall fremde Leute auf meiner Hochzeit haben”, sagt er. Er befürchte, dass viele Türken und Deutsche es nicht akzeptieren würden, dass er einen anderen Mann heiratet. Mert ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, ein Coming-out vor seiner Familie hatte er noch nicht. Seine Sorgen sind nachvollziehbar. 60 Prozent der Migranten aus der Türkei lehnten 2021 in einer repr?sentativen Befragung der Konrad-Adenauer-Stiftung gleichgeschlechtliche Paare ab. Unter denen, die sich als sehr religi?s bezeichneten, waren es sogar 78 Prozent. Sehr religi?se Deutsche ohne Migrationshintergrund sprachen sich zu 38 Prozent gegen die Ehe zwischen Homosexuellen aus – mehr als doppelt so viele wie in der deutschen Durchschnittsbev?lkerung. Das deckt sich auch mit meinem pers?nlichen Eindruck.
Auch Zana bereiten die Themen Hochzeit und Ehe Kopfschmerzen. Bei einer Runde Tischkicker erz?hlt sie, dass ihre Oma sie w?chentlich anruft, um sie mit einem albanischen Junggesellen zu verkuppeln. Zana hat darauf aber keine Lust. Sie m?chte selbstbestimmt daten. Die Diskussionen mit ihrer Familie machen sie müde. Zana, Ende 20, ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern wünschen sich für sie einen muslimischen Ehemann aus einer albanischen Familie. Auch Zanas Gro?eltern, Tanten und Onkel nerven sie seit Jahren damit, wie sie sich eine gute Beziehung für sie vorstellen.
Dieser famili?re Druck sei frustrierend, sagt Zana. Die vielen Streitereien überfordern sie. Aber mit Au?enstehenden darüber zu sprechen, falle ihr manchmal schwer – besonders dann, wenn ihr Gegenüber nicht wisse, wie es sei, eine enge Bindung zur Familie zu haben. Mert nickt zustimmend, w?hrend Martha aufmerksam zuh?rt.
Martha ist 29 und spricht mit ihren deutschen Eltern auch nicht über Liebe und Sex. Aber sie seien weder konservativ noch religi?s, theoretisch sei das also kein Tabu, sagt Martha. Im Gegensatz zu Mert, Zana und mir müsse sie sich auch nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie sie ihren Eltern jemanden vorstellt, den sie mag. Sie l?dt den Typen ohne Z?gern zum Weihnachtsessen ein, weil sie davon ausgehen kann, dass ihre Eltern cool mit ihrer Entscheidung sind.
Mein erster Versuch, mit meinen kurdischen Eltern über mein Liebesleben zu sprechen, endete im Streit. Die Folge: Ich zog kurzerhand von zu Hause aus. Damals war ich 17. Ich wollte keine Lügen erfinden, mich nicht aus dem Haus schleichen, nur um auf ein Date zu gehen. Wir haben uns zwar wenige Monate sp?ter vers?hnt, trotzdem bin ich nicht wieder bei meinen Eltern eingezogen. Die eigenen vier W?nde bedeuteten für mich zwar, einsamer zu sein, aber sie standen auch für mein selbstbestimmtes Leben, das ich nicht mehr bereit war aufzugeben.
Wir entscheiden uns im Stiefel auch für einen Tapetenwechsel und ziehen weiter in die Shorty Shooter Bar. Au?er uns sitzen hier noch zwei andere Typen, durch die Boxen dr?hnt “Toxic” von Britney Spears. An der knallroten Theke bestellen wir eine Runde Blowjobs – Sahnelik?r-Shots mit Schlagsahne-Topping. Firas, einer der drei Barkeeper, spricht mich an. Ab und zu würden ihn Junggesellinnen als Mutprobe um einen Kuss bitten, sagt er. Dabei tippt er auf seine Wange und lacht. Ich bin verwirrt. Wer will hier von wem einen Kuss? Ob er allen Br?uten in spe erlaube, ihn zu küssen? “Nein, das ist haram. Ich warte auf die Richtige”, sagt er und lacht. Was wie ein Scherz klingt, ist für andere Realit?t.
Eine meiner Freundinnen ist mit 27 noch Jungfrau. Sie stammt aus einer sunnitisch-islamischen Familie. Ihre Eltern sind türkisch, sie selbst ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sie hat mir erz?hlt, dass es ihr schwerfalle, k?rperliche N?he zuzulassen, obwohl sie das gerne m?chte. Doch der Gedanke, dass vorehelicher Sex haram – also tabu – ist, halte sie davon ab. Als wir an der Theke einen Flamming Asshole bestellen, sagt Mert, dass er stolz auf seine sexuelle Selbstbestimmung sei. Das war aber nicht immer so. Nach seinem ersten Mal habe er sich noch schlecht und schuldig gefühlt, weil er die Werte seiner muslimischen Familie verraten hatte.
Laut dem Berliner Sexualtherapeuten Halis Cicek gibt es einen Zusammenhang zwischen religi?ser Tradition und verklemmter Sexualmoral: Je konservativer, je religi?ser eine Familie sei, desto gr??er sei auch der seelische Konflikt der Menschen, die ihre Sexualit?t heimlich leben.
Meine Eltern sind alevitische Kurden, besonders religi?s ist meine Familie aber nicht. Im Alevitentum ist Alkohol erlaubt, M?nner und Frauen beten nicht in getrennten R?umen, sondern gemeinsam. Sie gehen dafür auch nicht in die Moschee, sondern ins sogenannte Cemevi, das Versammlungs- und Gotteshaus der Aleviten. Aber auch traditionelle patriarchale Strukturen k?nnen dazu führen, dass insbesondere auf Frauen aus kurdischen und türkischen Familien der Druck lastet, bis zur Hochzeitsnacht Jungfrau zu bleiben.
Laut dem Verein Terre des Femmes symbolisiert die Jungfr?ulichkeit von Frauen in vielen streng traditionell patriarchalen Familien noch immer die Familienehre. Den Frauen werde so das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verweigert. W?hrend meine unverheirateten Cousins ihre deutschen, türkischen und kubanischen Freundinnen auf unsere Familienfeste einladen und regelm??ig gegen neue Partnerinnen austauschen, sitzen meine zehn kurdischen Cousinen bis auf eine alle ohne Begleitung am Esstisch – ehe sie nicht verheiratet oder zumindest verlobt sind. Mit der Vorstellung, dass die eigene unverheiratete Tochter, Schwester oder Nichte keine Jungfrau mehr sein k?nnte, will man nicht konfrontiert werden. Vor allem die M?nner nicht.
Im Giga-Center, einem vierst?ckigen Arcade-Center mit Bar, hat es ein Typ auf Mert abgesehen. Doch der ist nicht interessiert. Mert ist seit drei Monaten wieder in festen H?nden. “Meine Schwestern wollten mich mal mit einer ihrer Freundinnen verkuppeln, als ich schon in einer achtj?hrigen Beziehung mit einem Mann war”, sagt er und lacht. Von seiner Beziehung wussten sie nichts. Ich muss auch lachen, weil ich schon in derselben Situation war.
Zwischen einer Runde Air-Hockey und Basketball erz?hlt Mert, dass es ihn belaste, seinen Freund vor seiner Familie zu verheimlichen. Und dass er darüber aber auch nicht mit jedem sprechen m?chte. Es nerve ihn, wie unsensibel viele heterosexuelle Deutsche damit umgehen, wenn sie erfahren, dass er noch kein richtiges Coming-out hatte. Wenn Leute sagen, sie würden an Merts Stelle den Kontakt zu seiner Familie abbrechen, mache ihn das wütend. Er liebt seine Familie und m?chte sie nicht verlieren: “Lieber verstecke ich meine Homosexualit?t, als den Kontakt zu meiner Familie abzubrechen.”
Auch als Tochter kurdischer Eltern in Deutschland aufzuwachsen und zu daten, ist nicht leicht. Bis heute rebelliere ich gegen veraltete, ungerechte Werte und Erwartungen meiner Familie an mein Liebesleben. Gleichzeitig muss ich mich dafür rechtfertigen, warum ich meine Familie trotz allem liebe und nicht aufgeben m?chte. Gespr?che wie die mit Martha, Mert und Zana geben mir Kraft und das Gefühl, nicht alleine mit meinen Problemen zu sein.
Mein Liebesleben ist wie eine diplomatische Mission. Ich erkl?re meinen Freunden, deren Familien bereits seit Generationen in Deutschland leben, dass ich viele Freiheiten habe, von denen meine Mutter, meine Tanten und ?lteren Cousinen nicht mal zu tr?umen gewagt haben. Ich erz?hle ihnen, dass insbesondere die Frauen in meiner Familie ein offenes Ohr für meine Wünsche und Sorgen haben, sich sogar bemühen, meine Ansichten zum Thema Liebe und Sex zu verstehen. Dass wir aber oft nicht einer Meinung sind, uns streiten und wieder vers?hnen, erscheint mir trotzdem logisch. Im Gegensatz zum Gro?teil meiner Familie bin ich vor den Toren einer deutschen Gro?stadt mit uneingeschr?nktem Zugang zur Bildung aufgewachsen.
Und von den Leuten, die nicht wissen, was es bedeutet, als Kind ausl?ndischer Eltern in Deutschland aufzuwachsen und zu daten, wünsche ich mir mehr Feingefühl und Verst?ndnis. Anstatt uns penetrante Fragen zu unserem Liebesleben zu stellen, die nur den eigenen Durst nach stereotypischen Klischeevorstellungen stillen, sollte man uns lieber Props geben. Zum Beispiel dafür, dass auch wir unser Liebesleben selbst in die Hand nehmen. Swipe für Swipe.
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]]>Für diesen Artikel besuchten wir 2012 eine Station des Uniklinikum Leipzig, auf der Frühchen und normalgewichtige Babys zusammen mit Kindern behandelt werden, die ihre ersten Wochen auf der Welt mit einem Drogenentzug verbringen. Das Foto zeigt ein Baby mit Neugeborenengelbsucht, das zur Behandlung unter blauem Licht liegt. Dass das Baby dann durch die überschrift ein “Cold Turkey Kid” wurde, also ein Kind, das einen kalten Entzug macht, fand ich etwas rei?erisch. Besonders wenn ich daran denke, was uns damals die ?rztin über die Problematik erz?hlt hatte. Ich zeige die Geschichte immer meinen Studierenden, um zu erkl?ren, dass manchmal unter den eigenen Bildern etwas stehen kann, worauf man als Fotograf keinen Einfluss hat. Aber hey, es war ein Cover für VICE.
Anfang 2018 schickte VICE mich und meinen Kollegen Thomas Vorreyer ins hessische St?dtchen Büdingen. Wir sollten den Bundeskongress der AfD-Jugend dokumentieren. Die Stimmung war angespannt. Wir hatten offiziell Zugang, aber erwarteten trotzdem, irgendwann rausgekickt zu werden. Ich versuchte m?glichst schnell und unauff?llig zu arbeiten. Im hinteren Teil des Saales hatten sich ein paar Leute beim Bier um eine besondere Spezialit?t versammelt: einen ganzen Teller Mett in der Form des Eisernen Kreuzes. In diesem skurrilen Bild vereinte sich für mich alles, was an Deutschland so furchtbar ist. Ich konnte das mit rohen Zwiebeln garnierte Mettkreuz gerade noch fotografieren, bevor es die Brigade genüsslich verspeiste. Eine Stunde sp?ter roch es dann sehr unangenehm.
Das Spannendste, das ich in meiner Zeit bei VICE erleben durfte, war sicherlich die R?umung der legend?ren Berliner Kneipe Syndikat. An einem Nachmittag im August 2020 bekam ich den Auftrag, am n?chsten Morgen dort zu fotografieren. Ich entschied mich, die Nacht davor schon dort zu sein. So entstand dieses Foto, als ein paar Menschen um ca 4:30 Uhr Barrikaden anzündeten. 36 Stunden war ich am Ende wach, um die Ereignisse zu begleiten und sie danach sofort zu ver?ffentlichen. Ich habe mich selten so wach und lebendig gefühlt.
Einer der vielen Artikel, die ich für VICE fotografierte, führte mich 2019 zusammen mit der Autorin Yannah Alfering in eine Trinkhalle im Ruhrpott. Wir verbrachten dort 24 Stunden am Stück, in denen wir die Sch?nheit und die Schattenseiten des Ruhrgebiets sahen. Und wir hatten zahlreiche berührende Begegnungen. Eine besonders gro?artige war die mit Gabi, einer Kundin des Kiosks, die mir spontan eine Vorlage für ein unvergessliches VICE-Foto anbot – einen Spagat, der die Vielfalt und Spontanit?t dieses Ortes perfekt einfing. “Wenn alle zusammen leben und klarkommen, is’ doch alles tacko”, sagte Gabi und verabschiedete sich.
Die Maientage, ein Berliner Volksfest, sollten im Mai 2022 zum vorerst letzten Mal stattfinden. Also wollte ich dort noch einmal die sch?nsten Minuten einfangen, die es auf Jahrm?rkten gibt: die Momente, direkt nach einer adrenalingeladenen Karussellfahrt. Auch Juliett hatte sich gerade in einem Fahrgesch?ft durchrütteln lassen, als ich sie fotografierte. Das Bild, das dabei entstand, zeigt genau diese sch?ne Euphorie, die einen kurz alles andere vergessen l?sst.
Das Foto zeigt Heidi, das Modell einer sogenannten gl?sernen Kuh an der Freien Universit?t Berlin. Vor der Ver?ffentlichung für VICE war es Teil meiner Abschlussarbeit “Hornloses Erbe – die deutsche Milchkuh im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit” (2014 – 2017). Die Arbeit sollte das immer wiederkehrende Bild von Kühen auf Milchverpackungen aktualisieren und die Fotografie bringt alles auf den Punkt: Sie zeigt, wie die Industrie mit Hilfe modernster Technik über die Kuh herrscht. Sie lebt unter totaler überwachung in der “sch?nen neuen Welt” des Kuhstalls, wo im Namen von Effizienz und Milchleistungssteigerung alles automatisiert ist. Die Schl?uche des Melkroboters erinnerten mich an die Matrix-Filme und so hie? dann auch die VICE-Titelgeschichte, die daraus im Juli 2017 in Vol. 13 No. 6 wurde: “Die Milch-Matrix“.
Es war mein erstes Cover überhaupt. Nachdem ich viele Jahre lang VICE-Ausgaben gesammelt hatte und dank des Fotoredakteurs Grey Hutton, dem ich meine investigative Haltung und Spontanit?t verdanke, 2013 ein Praktikum in der Redaktion machen durfte, wurde mein gro?er Traum als Fotograf war, einmal mein Bild auf einem VICE-Cover zu sehen. Das werde ich nie vergessen.
Ich habe 2016 in K?ln Fotos w?hrend einer Party von VICE und Tumblr gemacht. Dabei trat auch die Rapperin Haiyti auf. Diese beiden schweren Jungs, Messerwilli und Tommy Boss Brown, waren der Local Support Act. Shane Smith, der Gründer von VICE, der hier zwischen den beiden steht, war ebenfalls in der Stadt. Er fand die beiden wohl ganz cool, aber auch strange – so wie wir alle. Es war furchtbar hei? in der Location, weshalb alle die Shirts ausgezogen hatten. Aber es mussten generell natürlich auch die Tattoos gezeigt werden. Durch VICE ist man h?ufig in verrückte Situationen geraten oder mit au?ergew?hnlichen Leuten in Kontakt gekommen. Es war immer irgendwas Verrücktes los. Das war für mich auch der Spirit der VICE und das drückt dieses Foto aus.
VICE war das erste gro?e Online-Magazin, das sich 2021 getraut hat, einen Auszug meines Projekts “How We Bleed” zu ver?ffentlichen: eine Sammlung von über 1.000 realistischen Menstruationsfotos von über 500 Teilnehmenden. Die dadurch ausgel?ste Kontroverse zog sich durch s?mtliche Medien, von Print über Radio bis TikTok. Und der Shitstorm – sorry, Bloodstorm –, den es unter dem VICE-Facebook-Post gab, uferte so aus, dass der Beitrag bei Facebook offline genommen wurde. Die beste Best?tigung für die Wichtigkeit dieses aufkl?rerischen Projekts. Wenn man “Menstruationsblut” googelt, sind meine Bilder nach wie vor unter den Top 5 der Suchergebnisse – PERIODTTT.
Das Bild entstand circa 2004 beim Auftritt einer queeren Tanzgruppe und Blaskapelle w?hrend des Camp-Tipsy-Festivals in Biesenthal, etwa 45 Minuten von Berlin entfernt. Es war das Cover der VICE-Ausgabe “The Natives Issue” und zugleich für mich das erste Mal, dass eines meiner Fotos auf dem Titel dieses Magazins war. Damit durfte ich mich in eine Reihe mit internationalen Fotografen stellen, deren Bilder und Attitüde ich geliebt habe. Es folgen noch zwei weitere Cover, viele Storys und Artikelbilder, unglaubliche Geschichten und wunderbare Freundschaften.
Mein Praktikum bei VICE war eine Entdeckungsreise durch Berlin. Jeder Tag brachte eine neue Geschichte, darunter im Sommer 2017 einen “Vulva Watching”-Workshop. Eine Redakteurin, eine weitere Praktikantin – ebenfalls eine Rebecca – und ich bestaunten dabei die Vulven verschiedener Frauen, ohne – so die Idee – darüber zu urteilen. Jede Teilnehmerin war sowohl Beobachterin als auch Beobachtete. Nur Rebecca wollte mit mir kein Paar bilden, aus Sorge um unser gutes Arbeitsverh?ltnis. Doch als der Artikel über den Workshop durch die Decke ging, entschieden wir uns, gemeinsam weitere unkonventionelle Kurse zu besuchen, durch die wir uns immer besser anfreundeten.
Bis heute bin ich VICE dankbar, dass mich dieser Laden an die skurrilsten Orte geschickt hat und mir die Freiheit gab, mich in alle m?glichen Situationen zu stürzen, um das Leben in vollen Zügen zu genie?en.
Dieses Foto habe ich 2016 an einem warmen Tag auf einer ehemaligen sowjetischen Milit?rbasis bei Magdeburg geschossen. über tausend schie?wütige M?nner (und 40 Frauen) hatten sich hier zum “Big Game” versammelt, dem gr??ten Paintball-Turnier Europas – einem Wochenende voller Steaks, Bier und teurer Milit?rausrüstung.
Wir, die unbewaffneten Journalisten, waren beim roten Team embedded, das bei einem nachmitt?glichen Angriff erbarmungslos niedergemetzelt wurde. Den K?mpfer auf dem Foto habe ich direkt nach der Niederlage erwischt, als er sich vom Geschehen erholte.
In meinen sieben Jahren als Hausfotograf für VICE habe ich Pornomessen, Papstbesuche, Furry-Festivals und zahllose Demonstrationen besucht. Das “Big Game” war vielleicht nicht die absurdeste oder trinkfreudigste Veranstaltung, die ich in meiner Zeit bei VICE dokumentiert habe, nicht mal die mit der h?chsten Spandexdichte, aber dieses Foto geh?rt seither zu meinen Lieblingen. Es ist alles auf einmal: absurd, unheimlich, surreal und zerbrechlich.
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